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Sergej Werschinin
 

Das antizipierende Bewusstsein – Prinzip der Tagträume

 
Der erste Teil des Prinzip Hoffnung ist der detaillierten Beschreibung der kleinen Tagträume gewidmet. Der zweite Teil „Das antizipierende Bewusstsein” ist eine weitere Bewegung hin zur Analyse der grundlegenden Struktur diese Tagträume. Die Frage nach der Methodologie einеr solchen Analyse drängt sich auf. Bloch betritt hier vor allem – kritisch und polemisch – auf das Territorium der Geschichte der Philosophie.

Erstens kritisiert er seine Vorgänger wegen des verächtlich-negativen Verhältnisses zu den Affekten. Das gilt besonders für das „gesamte objekthafte Denken“ (Descartes, Spinoza usw.). Eine verzerrte Situation entstehe, denn „wo die Philosophie sich nur an die Emotionen hält, dort gilt alles, was sich daraus herausbegibt, als ‚Welt des Geschwätzes‘, in Kierkegaards Sinn; wo dagegen Philosophieren sich rein an die Cogitatio hält, dort gilt alles […] als ‚Asyl der Unwissenheit‘, in Spinozas Sinn“. (PH 80) Aber, meint Bloch, die intellektuelle Berührung mit den Affekten ist für jede Selbsterkenntnis und für das existenzielle Denken nötig. Auf wen kann man sich hier stützen? Auf Augustin und auf den „grundehrlichen“ (PH 80) Kierkegaard. Und auch bei Hegel ist die Phänomenologie des Geistes mit Affekteinsichten durchzogen (vgl. PH 80). Bloch versucht der Position des reinen Außenbeobachters zu entgehen, er will sich auch auf innere, nicht-reflexive, alltäglich-banale Lebenserscheinungen stützen. Er appelliert an die Selbsterkenntnis und die Selbstempfindungen jedes Menschen – an vielen Stellen finden sich Redewendungen wie: „Wer treibt in uns an?” (PH 49, 334), sehr oft werden die Pronomen uns und wir verwendet[1]. Er nimmt die Position des schwebenden Beobachters ein, der versucht, gleichzeitig außen und innen zu sein. Und er entfremdet sich nicht von dieser Menschenwelt, sondern schaltet sich selbst ein in diese Welt. Ergebnis dieser Beobachtung ist: Das gemeinsame Merkmal dieses Außen- und Innenseins ist die ontologische Unbestimmtheit. Der allererste „Drang“ ist ganz vage, die Affekte gehen vage vor (vgl. PH 77), selbst die Hoffnung – „sie erscheint keineswegs erst, wenn sie deutlich weiß, worauf sie hofft“ (PH 78), das äußere Etwas muss nicht von vornherein deutlich sein usw. Bloch leistet eine einführende Beschreibung des Innenseins des Menschen. Aber wenn man diesen Ansatzpunkt weiterdenkt, sich z. B. fragt, inwiefern dieser vage Drang generell existiert, dann gelangt man zu einer erweiterten Auffassung der physischen und sozialen Welt. Die Unbestimmtheit ist fixiert in der modernen
 
Physik, der Philosophie (Ilja Prigogine) und der Kunst – um von der Medizin gar nicht zu reden
(der Streit über Ende oder den Anfang des Lebens). Die Unbestimmtheit der heutigen Gesellschaft hat zur Soziologie des Risikos (Ulrich Beck) geführt, ganz zu schweigen von verschiedenen entsprechenden Unternehmens-Strategien.

Zweitens betont Bloch die Notwendigkeit, bei allen Analysen den Leib einzubeziehen und das negative Verhältnis zum ihm in der Geschichte der Philosophie zu überwinden. Der Leib ist Anfang und Endstation aller Untersuchungen. Es entsteht der Anschein, „als ob Triebe selbständig lebten und den Leib beherrschten, um von der Seele zu schweigen” (PH 53). Aber, meint Bloch, trotz dieses subjektlosen Anscheins kann kein Trieb ohne Körper auskommen. Fazit: „Vorhanden ist nur der Körper, der sich erhalten will, und deshalb isst, trinkt, liebt, überwältigt er und treibt so allein in den Trieben ” (PH 53).

Aber was passiert eigentlich im Körper? Wie wirken diese Affekte? Bloch beginnt – gleich dem Autor eines Detektivromans[2] –  eine lange Kette von Erscheinungen und ihnen entsprechenden Begriffen abzuspulen. Am Ende dieser Operation entsteht ein breites psychologisches Panorama der Affekte, die sich begrifflich in einer Trieb- und Affektenlehre verkörpern. Zuerst spürt man den „Drang“, dieser Drang äußert sich zunächst als Streben. In diesem Punkt könnte eine Ähnlichkeit mit Henri Bergsons „Elan vital“ vermutet werden, aber Bloch kritisiert diesen Begriff bei Bergson scharf. Sein Vorläufer, der Begriff des „Lebensantriebs“, kommt aus der Zeit der deutschen Romantik, Schelling hat Fichtes „unendlich tätiges Ich“ allgemein vitalisiert und Schopenhauer hat denselben Vorgang verteufelt. Blochs Urteil: „Für den Bergson des Elan vital existieren keine Dinge, keine berechenbaren Ursachen, nicht einmal Zwecke“, es handelt sich um eine „Freiheitskurve ohne Plan“ (EdZ 352).Wird das Streben gefühlt, so ist es „Sehnen“ (PH 49). Das Sehnen muss deutlich auf etwas hintreiben (vgl. PH 50). Wenn es auf etwas Bestimmtes gerichtet ist, so verwandelt es sich in ein „Suchen“. Und gezieltes Suchen ist ein „Trieb“ – ein wichtiger Kristallisationspunkt aller Überlegungen Blochs in diesem Kapitel. Als Synonym kann das Wort „Bedürfnis“ dienen. Bloch ist es wichtig, gerade in Zusammenhang mit diesem „reaktionär oft verdummten und verdinglichten“ (РH 50) Begriff seine Polemik zu führen und ihm einen anderen Inhalt zu geben. Aber kann der Mensch nicht nur begehren, sondern auch wünschen. Wenn das Begehrte zum „Wünschen“ übergeht, dann erscheint, mehr oder weniger, eine bestimmte Vorstellung eines Etwas, was begehrt wird. Dieses Etwas ist ein besseres Etwas. Die Wünsche gehen erst in den Vorstellungen auf. Die Vorstellung eines Besseren wird zum Wunschbild. Es gibt auch noch weitere Merkmale der Wünsche: Sie sind nicht Arbeit oder Tätigkeit, sie können völlig unvernünftig sein, können unentschlossen sein. Die Wünsche unterscheiden sich somit vom Wollen, aber es gibt kein Wollen ohne Wünsche.

Diese Bilder vom menschlichen Innen zeigen, dass Bloch versucht, die Fähigkeit zur Utopisierung in den tiefstliegenden Phänomenen der menschlichen Natur zu entdecken und damit eine anthropologische Begründung dieser Fähigkeit zu geben. Es soll eine Brücke zwischen Triebhaftem und Bewusstem entstehen.[3] Hier tauchen wieder Affekte als Bindeglied auf: Das Ich des Menschen ist auch affekthaft (vgl. PH 54). Gerade der bewusste Mensch ist am schwersten zu sättigen – er trägt mehrere Triebe in sich, auch mehrere Grundtriebe. Es entsteht ein dynamisches Bild vom Menschen: „[...] der Mensch ist ein ebenso wandelbares wie umfängliches Triebwesen, ein Haufen von wechselnden und meist von schlecht geordneten Wünschen” (PH 55). Man muss hier unterstreichen, dass Bloch alle Phänomene des psychischen Lebens, der Kultur und der Geschichte der Menschheit nicht nur im Rahmen von visuellen Forschungsparadigmata analysiert, sondern auch in akustischer Hinsicht. Er benutzt in vielen Bemerkungen akustische Metaphern (vgl. z. B. Das Prinzip Hoffnung,Kapitel 51, und viele kleine Alltagsskizzen in anderen Werken, so „Der kluge Rausch“ in Erbschaft dieser Zeit, „Singsang“ und „Nur klopfen“ in Spuren, „Menschlicher Ausdruck als untrennbar von Musik“ in Geist der Utopie  usw.). Und wenn jetzt allmählich dieses Paradigma erstmals in sozialen und humanitären Wissenschaften hervortritt, dann wird Blochs Nachlass auch in dieser Hinsicht aktuell. Bloch sieht keine feste Struktur und Ordnung in diesen Trieben: „[...] bald tritt der eine, bald der andere stärker hervor, bald wirken sie zugleich…”(PH 55). Und das ist nicht nur eine psychologische These, sondern eine prinzipielle Position von Bloch: Es gibt kein universelles Modell des Menschen für alle Zeiten und Kulturen. Die angebliche „Natur des Menschen“ ist historisch bedingt – sie wurde im Lauf der Geschichte hundertmal umgezüchtet und umgebrochen (vgl. PH 75). Es gibt keinen „Urmenschen“ oder „alten Adam“. Bloch weist – ganz im Sinne der sechsten marxschen Feuerbachthese – auf verschiedene Modelle des Menschen in der Geschichte der Philosophie hin: „Rousseaus ‚Naturmensch‘ war arkadisch und vernunftgemäß, Nietzsches ‚Naturmensch‘ dagegen war dionysisch und vernunftfremd“ (PH 75). Aber die größte Aufmerksamkeit widmet er der Auffassung des menschlichen Grundtriebs bei Sigmund Freud.

Bloch legt sorgfältig alle grundlegenden Thesen der Freudschen psychoanalytischen Theorie dar: Ich-Trieb, Verdrängung, Komplex, Unbewusstes, Sublimierung - und gleichzeitig kritisiert er sie. Die Kritik an Freud kann man auf folgende Momente zurückführen:
1. Das Ich ist unproduktiv, weil es nur eine Kontrollinstanz für die Libido ist (PH 59); dem Leib wird das bewusste Ich genommen (PH 67).
2. Der Traum ist bei Freud immer der nächtliche Traum, wobei das zensierende Ich schläft (PH 61).
3. Im Unbewussten gibt es nichts Neues. Das Unbewusste besteht aus Regressionen und niemals aus Progressionen. Das Unbewusste ist niemals ein Noch-Nicht-Bewusstes (PH 61).
4. In dieser Individualpsychologie kommt nur der Einzelmensch vor und keine ökonomisch-gesellschaftlichen Bedingungen (PH 71).
Bloch zeigt die wichtigsten Besonderheiten der Entwicklung der Psychoanalyse vom „liberal aufklärenwollenden“ (PH 70) Freud zu seinen Schülern C. G. Jung und Alfred Adler, bei welchen manche prinzipielle Thesen noch zugespitzt wurden. Jung hat „das Unbewußte Freuds auf der ganze Linie generalisiert und archaisiert: es soll rationalistisch nicht aufgelöst werden” (PH 69). Seine Psychosynthese bedeutet: „Gegenwart fliehend, Zukunft hassend, Urzeit suchend“ (PH 67). Alles Neue ist bei Jung wertlos, ja wertfeindlich (PH 67). Die theoretische Kritik geht hier in scharfe politische Urteile über: Jung ist für Bloch ein „faschistisch schäumender Psychoanalytiker“, ein „Faschist“ (PH 65). Adler setzt den Willen zur Macht als Grundtrieb des Menschen. Aber diese Bestimmung wiederholt die Entwicklung der deutschen Philosophie: „[...] immer verschärft er den kapitalistischen Weg von Schopenhauer zu Nietzsche […] und reflektiert diesen Weg ideologisch-psychologisch“ (PH 64). Und diese fast völlige Übereinstimmung von Nietzsches „Wille zur Macht“ mit Adlers Bestimmung des Grundtriebes bedeutet, dass in der Entwicklung der Psychoanalyse Nietzsche Schopenhauer besiegt.

Aber bei allen Unterschieden sieht Bloch viel Gemeinsames bei Freud, Jung und Adler: Das Unbewusste ist etwas Vergangenes, im Vorbewusstsein gibt es nichts Neues.
Aber wie kann das Modell des Menschen aus der Perspektive des Prinzip Hoffnung aussehen? Der Titel des 13. Kapitels beantwortet diese Frage hinreichend: „Die geschichtliche Begrenztheit aller Grundtriebe. Verschiedene Lagen des Selbstinteresses. Gefühlte und Erwartungs-Affekte”.

Bloch betont, dass psychoanalytisch betonte Grundtriebe zu partial sind. Es gibt andere Triebe – z.B., den Hunger, der überall ausgelassen wurde. Die Argumentation für diesen Trieb ist wieder auf Affekte aus dem Alltagleben gebaut: „Das Mitgefühl mit Verhungernden ist […] das einzig verbreitete […], die Hungerklage […] ist wohl die stärkste” (PH 72).

Bloch gelingt eine Analyse des Hungers, in der er die praktische und theoretische Dimension dieses Phänomens bis hinein ins Soziologische zeigt.  Freuds fehlendes Interesse an der Sorge um Nahrung – auch bei seinen Patienten – zeige, so Bloch, die klassenmäßige Begrenztheit der psychoanalytischen Grundtriebforschung (vgl. PH 73). Die Patienten der Psychoanalytiker entstammen einer Mittelschicht, der Ernährungsprobleme unbekannt sind. Aber die reale Lage ist anders: Nach Bloch geschahen im fraglichen Zeitraum über 90 Prozent aller Selbstmorde aus wirtschaftlicher Not (vgl. PH 72); Angst vor Verlust der Arbeit ist schwerlich zu deuten als Kastrationskomplex (vgl. PH 73). Hunger und Alltagssorgen führen in der Unterklasse zur Einengung der Libido. Bloch unterstreicht, dass Hunger kein reiner Instinkt der Nahrungssuche ist, er ist vielmehr ein „gesellschaftlich gewordenes und gesteuertes Bedürfnis in Wechselwirkung mit den übrigen gesellschaftlichen, daher geschichtlich variierenden Bedürfnissen“ (PH 76). Auch in der Libido, im Machttrieb gibt es Hunger, „Appetit in sich“ (PH 76). Deshalb muss man die Akzente verschieben: Hunger zeugt davon und ist ein Ausdruck von Selbsterhaltung als letzter, konkretester, einzig lebenswichtiger Grundtrieb. Mit Hilfe des Hungers – er hört nicht auf, er erneuert sich immer wieder, er wächst ununterbrochen – beweist Bloch, dass die Selbsterhaltung eine Selbsterweiterung ist. Und dann – ganz im Sinn von Marx –  betont Bloch: „Aus dem ökonomisch aufgeklärten Hunger kommt heute der Entschluss zur Aufhebung aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein unterdrücktes und verschollenes Wesen ist“ (PH 84). Mit dem Hunger fängt ein revolutionäres Interesse an, Hunger verwandelt sich in eine Sprengkraft gegen das Gefängnis der Entbehrung. (vgl. PH 84)

In welchem Verhältnis steht der Hunger als Grundtrieb zu den anderen Affekten? Die Affekte sind als Gefühl treibende Triebe oder anders: Es sind „Gemütsbewegungen“ (PH 77). Inbegriff aller Gemütsbewegungen – hier unterstreicht Bloch wiederum ein dynamisches Merkmal – ist das Gemüt. (PH 79) Gemütsbewegungen unterscheiden sich von Empfindungen und Vorstellungen dadurch, dass sie vor sich gehen, vage sind (PH 77). Diese in sich geschehenden, noch halb unmittelbaren Affekte sind als Intentionsakte ständig gegeben (PH 79). Und das geschieht, weil ein Streben, ein Trieb allen Intentionsakten zugrunde liegt, auch im Vorstellen und Denken. (PH 79) Bloch stellt fest: „Gleich dem Grundaffekt Hunger, der primär in sich selbst wühlt, sind also alle Affekte primär Selbstzustände“ (PH 79). Mithin ist das Affektleben ein nächst-intensives und in sich eminent intendierendes. Daraus schließt Bloch, dass nur Gemüt ein existenzieller Begriff ist und nicht der theoretisch-objektive Geist. (vgl. PH 79)

Die rein äußerliche Gruppierung der Affekte – jähe und langsam reifende, rasch verschwindende und sich eingrabende, asthenische und sthenische, starke und schwache (PH 81) – lehnt Bloch ab. Näher an der Sache orientiert ist die Einteilung in Hass und Liebe, Verneinung und Bejahung, Unzufriedenheit oder Zufriedenheit. All diese Affekte können in zwei große Gruppen eingeteilt werden. Es sind Abwehraffekte, so Angst, Neid, Zorn, Verachtung, Hass, und Zuwendungsaffekte, so Behagen, Großmut, Vertrauen, Verheerung, Liebe. Dabei geraten Abwehraffekte in eine inferiore Position, die Zuwendungsaffekte „stehen in Licht“ (PH 82).

Bloch schlägt ein anderes Kriterium vor und spricht von gefüllten Affekte und Erwartungsaffekten. Die gefüllten Affekte (Neid, Habsucht, Verehrung) sind solche, deren Gegenstand in der „bereits vorhandenen Welt“ (PH 82) schon da ist. Die Erwartungsaffekte (Angst, Furcht, Hoffnung, Glaube) sind solche, deren Gegenstand noch nicht bereit liegt. Sie unterscheiden sich von den gefüllten Affekten in ihrem Gehalt „durch den unvergleichlich größeren antizipierenden Charakter“ (PH 83). Zwar sind alle Affekte auf Zukunft bezogen,  aber die gefüllten Affekte beziehen sich auf eine unechte Zukunft – dort geschieht nichts objektiv Neues. Die Erwartungsaffekte hingegen haben wesentlich einen antizipierenden Charakter – sie implizieren das Noch-Nicht. In allen Erwartungsaffekten, auch den negativen, bricht Drang, Wunsch aus, womit Bloch zurückkehrt zum Anfang seiner Überlegungen. Der wichtigste Erwartungsaffekt – der Sehnsuchtsaffekt (PH 83) – ist die Hoffnung: „Hoffnung, dieser Erwartungs-Gegenaffekt gegen Angst und Furcht, ist deshalb die menschlichste aller Gemütsbewegungen und nur Menschen zugänglich, sie ist zugleich auf dem weitesten und den hellsten Horizont bezogen”(PH 83f.).

Das Wunschhafte in diesen Erwartungsaffekten, vom Hunger aufgereizt, auf die Ziele des besseren Lebens gerichtet, sind die Tagträume (PH 85). Bloch betont die grundsätzliche Unterscheidung der Tagträume von den Nachtträumen in scharfer Polemik gegen die Theorie von Sigmund Freud. Er nimmt wieder den Standpunkt des Wünschens ein: „Vom Wunsch wird man nie oder nur täuschend frei“ (PH 86) und die Menschen, bei Bloch vor allem die Entbehrenden, „träumen davon, dass ihre Wünsche erfüllt werden“ (PH 86). Bei Freud hat der Nachttraum folgende charakteristische Eigenschaften: Das erwachsene Ich ist im Schlaf geschwächt, d.h., es „kann das ihm unschicklich Erscheinende nicht mehr zensieren“ (PH 88), weder moralisch noch ästhetisch. Aus dem Wachzustand und seinem Inhalt bleiben nur noch die sogenannten Tagesreste übrig, das heißt assoziativ stark gelockerte Vorstellungen, die sich an die Traumphantasie assimilieren. (vgl. PH 88). Die Außenwelt mit ihren Realitäten und praktischen Zweckinhalten ist so blockiert. Das erwachsene Ich verwandelt sich in das Ich der Kindheit. Die Rede ist zwar vom Tagtraum, aber dank der bürgerlichen Illusionstheorie ist Tagtraum nur ein Spielraum für Infantilismen und Archaismen (PH 109). Im Ganzen betrachtet ist fast kein Traum Wunscherfüllung – er ist entstellt, maskiert und verkleidet sich symbolisch (PH 88). Und der Träumende versteht das Symbolische nicht, mehr noch: Der Träumer weiß nicht, was er weiß. (vgl. PH 91)

Zwei grundlegende Vorwürfe richtet Bloch an die Psychoanalyse: Für Freud sind Tagträume und Nachtträume ihrem Wesen nach gleich, Freund konzentriert sich auf Nachtträume (PH 97). Das kann man theoretisch-psychologisch erklären, hinzu kommen kulturelle und geschichtlich-philosophische Voraussetzungen. Kulturelle Wurzeln und so die große Liebe zu den Nachtträumen schafft die Romantik: „Nachttraum als verwilderter Roman wird von der romantischen Naturphilosophie entdeckt“(PH 113). Der pure Romantiker will nicht wissen, ob in seiner Poesie unterbewusstes Chaos oder bewusst gestaltende Phantasie vorherrscht (PH 113).

Was geschichtlich-philosophische Umstände betrifft, so nimmt die Psychoanalyse die Realität als die Realität der bürgerlichen Gesellschaft (PH 97). Der bürgerliche Alltag ist Maß alles Wirklichen und er erscheint bei Freud als unveränderlich und mechanistisch (PH 109). Aber der Tagtraum, so Blochs dezidierter Einwurf, ist keine Vorstufe zum Nachttraum, hier muss eine spezifische Auswertung erfolgen. Bloch hebt vier grundlegende Charaktere des Tagtraums hervor, die als Meilensteine die Psychologie des Neuen bilden.[4]

Erster Charakter des Tagtraums: freie Fahrt. Das Verhältnis zwischen Tagtraum und  Träumendem ändert sich gegenüber der freudschen Auffassung. Der Tagtraum drückt nicht auf den Träumenden, er steht in seiner Macht. Die Tagtraum-Bilder sind keine Halluzinationen. Das wache Traumhaus wird wird nach selbst gewählten Vorstellungen eingerichtet; im Gegensatz dazu weiß der Einschlafende nicht, was ihn hinter der Schwelle zum Unterbewusstsein erwartet. (vgl. PH 98f.)

Zweiter Charakter des Tagtraums: Das Ego ist im Tagtraum weniger geschwächt, es gibt eine Verbindung zu dem Leben und seiner Wachwelt. Es ist lebhaft, strebend und als Wichtigstes: „Held der Tagträume ist immer die eigene erwachsene Person“ (PH 101). Hier verschwindet jede moralische Zensur. Das Ergebnis wirkt geradezu paradox: das Tag-Ich ist stark und kann zensieren, aber die Wunschvorstellung ist stärker. Es entsteht eine, nach Bloch, „utopisierende Stärkung des Tagtraum-Ichs” (PH 102).

Dritter Charakter des Tagtraums: die Weltverbesserung. Wenn das Ich nicht introvertiert oder nur auf seine nächste Umgebung bezogen ist, dann kann es auch andere Menschen vertreten. Das Feld ist nicht so eingeengt wie im Nachttraum, sondern weit – eine Gemeinschaft mit anderen Egos ist möglich (vgl. PH 103). Der Tagtraum hat etwas nach außen mitzuteilen und ist fähig, anderen etwas zu erzählen, auch ist er imstande, seinen Inhalt zu konkretisieren. Deshalb „sind die Tagträume wegen ihrer Offenheit verständlich, wegen ihrer allgemein interessierenden Wunschbilder kommunizierbar“ (PH 105)[5]. Freud selbst – das anerkennt Bloch – hat die Besonderheit der Tagträume zwar bemerkt, sie sind das Rohmaterial der poetischen Produktion, aber der Begriff Sublimierung mache die Psychologie des Neuen unkenntlich. Der Tagtraum trägt Bilder der besseren Welt – er ist „tunlichst exaktes Phantasieexperiment der Vollkommenheit“ (PH 106). Mit solchem Gehalt geht er in die Kunst („Tagtraum als Vorstufe der Kunst“, PH 106), in die Musik, in die Wissenschaft. Bei der Beschreibung dieses dritten Charakters tauchen bei Bloch die Begriffe auf, die später konkretisiert werden: Tendenz (der Traum von einer Sache gehört dazu), Austrag des Totums, das objektiv Mögliche wird sichtbar usw. (vgl. PH 106)

Vierter Charakter des Tagtraums: die Fahrt ans Ende. „Die Tagphantasie startet wie der Nachttraum mit Wünschen, aber führt sie radikal zu Ende“ (PH 107). Als Beispiele gelten hier Tagträume in den Kindheitserinnerungen von Clemens von Brentano und bei Eduard Mörike (aus dem Roman Maler Nolten). Der Grund für diese Eigenschaft ist die Ernsthaftigkeit „eines Vor-Scheins von möglich Wirklichem“ (PH 109). Hier tritt Bloch in eine direkte Polemik mit Freud. Freud behauptet, die Phantasie sei Freiheit von äußerem Zwang, bei C. G. Jung ist die Phantasie nur als archetypisch möglich. Blochs Auffassung unterscheidet sich davon wesentlich: Der Tagtraum ist eine gestaltbare Möglichkeit, und große Kunstwerke sind auf eine Latenzschicht des Kommenden aufgetragen, das heißt auf die Inhalte einer Zukunft (PH 110). So kommt Bloch zu dem Fazit: „Der Inhalt des Nachttraums ist versteckt und verstellt, der Inhalt der Tagphantasie ist offen, ausfabelnd, antizipierend und sein Latenz liegt vorn“ (PH 111). Der Unterschied zwischen Tagträumen und Nachtträumen ist universell und für viele Bereiche des Lebens gültig.[6].

Bloch beweist das mit zwei heute noch aktuellen Beispielen: Drogengebrauch und psychische Krankheiten. Die Drogen rufen künstlich einen „Genera Traum“ hervor, aber es passiert auf verschiedene Weise: bei Opiumgebrauch schlafen Ego und Außenwelt, dort wirkt primär die Vergessenheit, nicht Licht. Deshalb erscheint Opium dem Nachttraum zugeordnet. Bei Haschischgebrauch greift eine schöne Außenwelt in die Phantasie mit großer Leichtigkeit und deshalb erscheint die Haschischwelt dem Tagtraum zugeordnet. Manche Überlegungen Blochs wirken wie heute geschrieben aus. Im oben genannten Kontext erwähnt Bloch die Sekte der Assassinen, eine „religiöse Mördersekte des arabischen Mittelalters“ (PH 99). Sie „führte Jünglinge, die zu einer Bluttat ausgewählt waren, durchaus offenen Auges, trotz dem Haschischrausch, in die glänzenden Gärten des Scheichs, in einen Überfluss sinnlichen Vergnügens […]. Die Jünglinge mit dem Utopiegift im Leib glaubten, einen Vorgeschmack des Paradieses zu empfinden; sie waren bereit, ihr Leben für den Scheich einzusetzen, um das wirkliche Paradies zu gewinnen“ (PH 100). Diese Dichotomie wiederholt sich in Psychosen: „Das Modellhafte des Nachttraums zeigt sich entsprechend in der Schizophrenie, als einer Regression, das Haschischhafte in der Paranoia, als einem Projektwahn“ (PH 103). Diese beiden Erkrankungen sind nicht scharf voneinander getrennt: Oft endet Paranoia in Schizophrenie (vgl. PH 103).

Bloch zeigt nicht nur den Unterschied zwischen Nachtträumen und Tagträumen, er erörtert auch den Tausch und das Ineinander der Traumspiele. Beispiele aus Gottfried Keller und James Joyce beweisen: Archaisches kann mit Wachphantasie kommunizieren (vgl. PH 115); dies ist möglich, weil nicht alles in der Vergangenheit abgegolten oder fertig ist. Dieser Zusammenhang führt zum Sieg des Tagtraums, denn „die Archaik kapituliert, wegen ihrer unabgegoltenen Bestandsstücke, gegebenenfalls vor dem Utopischen“ (PH 115). Der Status der Tagträume ist universell: Sie sind vorfindbar bei jedem Menschen und in Gruppen, bei allen Phänomen des menschlichen Lebens, besonders in der Kultur besonders, in der Gegenwart und in der Geschichte – Bloch stellt dies im Prinzip Hoffnung enzyklopädisch dar.

Nach der geschichtsphilosophischen und anthropologischen Rechtfertigung der Tagträume macht Bloch den nächsten Schritt: Er demonstriert die Existenz des Tagtraums in der Geschichte der Kultur anhand zweier Beispiele – in „entzückender“ und in „symbolischer“ Gestalt. Vor allem fixiert er – wiederum in schöner impressionistischer Beschreibung – einige Züge des Tagtraums. Er beginnt mit bekannten Tatsache: „Desto mehr wird geträumt, je weniger bereits erlebt ist“ (PH 368). Aber dann vereinigt er die innere, seines Erachtens primäre, Neigung mit dem äußeren Reiz. Und diese Neigung malt die gewünschte Gestalt. Hier ist wieder einen Parallele zu den Stereotypen der Wahrnehmung von Alfred Schütz zu bemerken[7]. Aber wenn Schütz versucht, eine statische Begründung zu liefern, unterstreicht Bloch wiederum die dynamische, vielseitige, spontane Seite: „Zuweilen geschah die Wahl zu Hause, an einzelnen Züge von Vater und Mutter, zuweilen auf der Straße, zuweilen an einem abgebildeten Gesicht“ (PH 369). Wichtig ist für Bloch, dass die geträumte Gestalt bildhaft ist. Im Bild, vom Schattenriss bis zur Photographie, aber vor allem im Porträt, sieht sie sich selbst und so drückt sie sich deutlicher aus (PH 369). Bloch führt verschiedene Beispiele an: Grimms Märchen vom treuen Johannes, Prinzessin Turandot, Senta im „Fliegender Holländer“, Nastasja Filippowna bei Dostojewskij und vor allem bei Mozart in der „Zauberflöte“ – Pamina. Pamina „gibt die süßeste Gestalt aller Traumgeliebten und durch die Musik ihres Vor-Scheins die wesentlichste“ (PH 371). Der Traumgestalt ist oft von Gefahr umgeben und dem Geliebten fern, an fremden Ort (PH 372). Das Bild rückt um das Ereignis (vgl. PH 373), das bedeutet: Es entsteht der erste oder letzte Eindruck als Erinnerung. Der erste Eindruck: „Der Blick auf die Vorübergehende, Verschwindende bleibt stehen, qualvoll, unausgelebt“ (PH 373). Im unerfüllten Wunschbild erhält sich die Qual der Liebe. Mehr noch: Wenn man im Wachtraum verbleibt, dann kommt es zu einer utopistischen Neurose (PH 377). Der letzte Eindruck ist das geschmückte, versäumte Glück. In beiden Fällen, so Bloch, gibt es das Moment der Fülle, die möglich gewesen wäre. Bedeutender ist aber noch ein anderes: Hat die Gestalt, die Imago der Liebe, nur Phantasiezüge oder gibt es etwas im Objekt der Liebe selbst? Für Bloch hat das Wunschbild eine Fundierung im Objekt: „Pamina ist im angetroffenen Zustand ihrer Wirklichkeit vielleicht nicht so, wie sie Tamino im Bild erscheint, doch die utopische Imago, die sie erregte, ist eben ihre eigene“ (PH 378). Diese These zeigt, dass Bloch die Identität der subjektiven („menschlich-historischen“) und objektiven („physischen“) Welten zuerst am Beispiel der zwischenmenschlichen Beziehungen analysiert.

Aber auch in gelungener Liebe ist ein Bild des Bevorstehenden da. Wenn die Liebe gelungen und die Frau gewonnen ist, was passiert dann? Einerseits kann das Fabeln um die Frau enden und beginnt der Ehehass. Bloch zeigt das an verschiedenen Beispielen: E. T. A. Hoffmanns Kapellmeister Kreisler, Ibsens Ellida Wangel, Spittelers Theuda usw. (vgl. PH 376). Andererseits betont Bloch: Die Ehe hat ihre eigene Utopie und „einen Nimbus darin, der mit dem Morgen der Liebe nicht zusammenfällt, daher keineswegs mit ihm vergeht“ (PH 379). Anders gesagt: Die Ehe ist die Utopie einer der freundlichsten Lebensgehalte des Menschen (PH 380). Im Hintergrund steht das Symbol des Hauses, die „Zielhoffnung des Heimatsymbols“ (PH 379). Dieses Symbol ist keine rationalisierte Sexualität, kein Kunstgewerbe, sondern Entwicklungsraum für zwei Menschen. Gleichzeitig ist es nicht bloßer moralischer Nachtrag zur Liebe, sondern das Abenteuer erotischer Weisheit. (vgl. PH 380) Wenn Ehe eine Utopie darstellt, so kann man sie in zwei Varianten betrachten.

Die erste Variante ist die mythische Utopie der Ehe, die Utopie des Hohen Paars. Die Kategorie des Hohen Paars erschien gleich nach der mutterrechtlichen Gesellschaft. Es ist ein Wunschbild der Ehe, wo Weib und Mann ein konzentrisches (kosmisches) Bild bekommen: Sie ist anmutig und gewährend-gut, er ist kraftvoll und herrschend-gut. Es ist die Einheit von Zartheit und Strenge, Huld und Macht. (vgl. PH 381) Dieser Nimbus des Hohen Paars liegt auf Perikles und Aspasia, Salomo und Königin von Saba, Antonius und Kleopatra, Simon Magnus und Elena. Hier spielt auch die Konfession eine besondere Rolle: „Das Christentum mit dem weiblosen Gottvater, ließ keine oder undeutliche Hohe Paare auf Erden zu, das gnostisch-kabbalistische Judentum dagegen durchaus“ (PH 382). Bloch sieht hier auch Einfluss von astralmythischen Religionen und Gnosis. Das Bild solcher Union ist, nach Bloch, im Kitsch und in dynastischen Paaren erhalten. Und in der europäischen Kultur bleibt dieser Paar-Mythos in der Faust-Helena-Sage und in der Pamina-Tamino-Union bestehen.

Die zweite Variante der mythischen Utopie der Ehe ist Corpus Christi. Die Ehe wird die Gemeinde, der von Frau und Mann nachgebildete Corpus Christi (vgl. PH 383). Das Vorbild der Ehe ist der Bund Christi mit seiner Gemeinde. Es gibt das Sakrament der Ehe und als geweihte Glieder des Leibes Christi widmen sich die Gatten der Erweiterung dieses Leibes. „Die Ehe wird bei Paulus die Verbindung von Jünger und Jüngerin aus Verwandtschaft und Herkommen“ (PH 384). Es ist keine Geschlechtsgenossenschaft mehr, sondern Kultgenossenschaft. Und endlich antwortet Bloch auf eine ewige Frage: was weiter? Wenn der Traum verwirklicht wurde, wenn die Liebe stattfand und schon Vergangenheit ist, was passiert dann? Nach Bloch entsteht ein Nach-Bild der Liebe, als erfüllter und doch wieder nicht erfüllter (vgl. PH 385). Das Nach-Bild ist ein Versprechen – denn im Vergangenen erwartet man noch ein Ungewordenes, auch nach dem Tod: „Die tote Geliebte hat sich aus der bloßen Erinnerung herausbewegt, die Imago läßt nicht fruchtlos zurücksehnen, sondern wirkt wie ein Stern aus der Zukunft her“ (PH 387).

Was den Tagtraum in symbolischer Gestalt betrifft, so beginn Bloch mit der „merkwürdigen“ Pandora-Sage, wonach die von Zeus geschickte Pandora die Büchse öffnete und „Krankheit, Sorge, Hunger, Mißwachs flogen heraus“ (PH 388). Einzig in der Büchse gebliebene, verschlossene Hoffnung erregt Blochs Aufmerksamkeit und er zeigt zwei Fassungen der Hoffnung. Einerseits war nach dieser Sage die Hoffnung mitten unter den Übeln; logisch gesehen war sie selbst – bei Hesiod – ein Übel. Die mildere und diesem teils widersprechende  Auffassung ist, so Bloch, von Andrea Pisano auf dem Portal des Florenzer Baptisteriums dargestellt: Die Hoffnung sitzt wartend, obwohl sie geflügelt ist (vgl. PH 388). Aber es gibt eine andere Fassung, Hoffnung als Gut. Es ist das noch nicht gereifte, aber auch nicht endgültig vernichtete Gut. Dies beginnt in der späten hellenistischen Tradition, wo die Pandoralade voll ist mit Reizen, Geschenken, Glücksgaben. Diese Lade – als freundlichstes Symbol – transformiert  Bloch verschiedenartig: Es ist warme Stube mit halbgeöffneter Tür, die Kajüte an Land, das offene Meer. Die Illusionen aus dieser Lade sind verflogen, aber die  realiter fundierte Hoffnung ist geblieben. Diese Fassung der Hoffnung ist im Rahmen einer Philosophie möglich, die materialistisch-offen ist.

Gestützt auf die Affektenlehre und die Tagträumekonzeption, können folgende Schlussfolgerungen gezogen werden:
1. Die Tagträume haben sich aus dem banal-alltäglichen Phänomen in einen Gegenstand der anthropologischen Argumentation verwandelt. Die Beschreibung der Tagträume und ihre Rolle im Leben der einzelnen Menschen und in der Gesellschaft erlaubt es, die humanistischen Werte beizubehalten. Diese theoretische Position ist auch heute – unter den Bedingungen der Konsumgesellschaft – aktuell.  In der heutigen Gesellschaft wird der Mensch immer mehr von außen gesteuert und verliert oft seine eigene persönliche und soziale Identität[8]. Als ein mögliches Mittel des Widerstands und der Bewahrung der Selbstidentität kann hier der Tagtraum auftreten.  Wie der Psychologe Heiko Ernst zeigt, bilden Tagträume ein Gegenprogramm gegen die wachsende soziale Veräußerung:  der Tagtraum „ist die erste Verteidigungslinie unserer Innenwelt. Wir brauchen dieses Paralleluniversum, um unser Selbst zu bewahren“[9].

2. Die Analyse der Tagträume lässt neue Dimensionen der Antizipation erkennen. Diese Antizipation ist konkret, illusionslos und optimistisch (vgl. PH 390). Ein anderes Bild der Welt und der Philosophie ist hierfür erforderlich, weit entfernt von mechanischem Materialismus und von Idealismus: „Die wirklich offene Welt ist die des dialektischen Materialismus“ (PH 390).
 
Werschinin, Sergej
(Jekaterinburg, Rossija)
 
Literatur zum Artikel
 
 
1.      Braun, Eberhard: Grundrisse einer besseren Welt. Beiträge zur politischen Philosophie der Hoffnung, Mössingen-Talheim 1997.
2.      Ernst Heiko: „Unser persönliches Paralleluniversum“, in: Psychologie heute, 07/2011. http://www.psychologie heute.de/archiv/detailansicht/news/unser_persoenliches_paralleluniversum
3.      Grathoff Richard: Milieu und Lebenswelt. Einführung in die phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung, Frankfurt a. M. 1995.
4.      Jung Werner. Augenblick, Dunkel des gelebten Augenblicks //  Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Bloch, hrsg. von Beat Dietschy, Doris Zeilinger, Rainer E. Zimmerman, Berlin/Boston 2012. 
5.      Priddat Birger P.: „2 Ich, 1 Wir und das multiple self. Ein Modernisierungsvorschlag“, in: Jan Robert Bloch: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst“. Perspektiven der Philosophie Blochs, Frankfurt a. M. 1997.
6.      Riedel Manfred: Tradition und Utopie. Ernst Bloch Philosophie im Licht unserer geschichtlichen Denkerfahrung, Frankfurt a. M. 1994, S. 228-232.
7.      Riesman David.Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Rowohlt, 1958.  
8.      Schütz Alfred, Luckman Thomas: Strukturen der Lebenswelt. Konstanz: UVK-Verl.-Ges., 2003.
9.      Vidal Francesca: „Die Detektivgeschichte als ein Hinweis auf die Methodik der Spurensuche bei Ernst Bloch“, in: Rainer E. Zimmermann, Gerd Koch. U-Topoi. Ästhetik und politische Praxis bei Ernst Bloch, Mössingen-Talheim 1996.
10. Werschinin Sergej: „Ernst Bloch und die russische Kultur des 20. Jahrhunderts“ in: Vorschein. Die Ernte von 68. Anthropologie und Natur, Blätter der Ernst-Bloch-Assoziation, Nr. 18/19, Berlin 2000.
 
 
 
Sergej Werschinin. Das antizipierende Bewusstsein – Prinzip der Tagträume// Rainer E. Zimmermann (Hrsg.): Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, De Gruyter, Berlin/Boston 2017, S. 51-63.
 
 
 
 
 
 


[1] Zum konzeptuellen Inhalt von „Ich“ und „Wir“ bei Bloch vgl. Birger P. Priddat: „2 Ich, 1 Wir und das multiple self. Ein Modernisierungsvorschlag“, in: Jan Robert Bloch: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst“. Perspektiven der Philosophie Blochs, Frankfurt a. M. 1997, S. 196-208.
[2] Siehe den interessanten Artikel von Francesca Vidal: „Die Detektivgeschichte als ein Hinweis auf die Methodik der Spurensuche bei Ernst Bloch“, in: Rainer E. Zimmermann, Gerd Koch. U-Topoi. Ästhetik und politische Praxis bei Ernst Bloch, Mössingen-Talheim 1996, S. 122-133. Später bekommt das Genre des Detektivs bei Bloch eine ontologische Begründung mittels der Einführung des Begriffs „Dunkel des gelebten Augenblicks“ (vgl. den Artikel von Werner Jung in Bloch-Wörterbuch. Leitbegriffe der Philosophie Ernst Bloch, hrsg. von Beat Dietschy, Doris Zeilinger, Rainer E. Zimmerman, Berlin/Boston 2012. S. 55.)
[3] Hier ist eine Parallele zur phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz zu bemerken: Schütz untersucht die Lebenswelt und findet dort die Fähigkeit zur Typisierung, wodurch die Voraussetzungen der Wissenschaft in dieser Lebenswelt zu finden sind. Vgl. dazu: „Personale Typen und Typen des Ablaufs sozialen Handelns bei Alfred Schütz“, in: Richard Grathoff: Milieu und Lebenswelt. Einführung in die phänomenologische Soziologie und die sozialphänomenologische Forschung, Frankfurt a. M. 1995, S. 364-369. Bloch untersucht die Affekte und findet dort die Grundlagen für die verschiedenartigen Utopisierungen in Gesellschaft und Kultur.
[4] Eberhard Braun hat diesen Gedanken von Bloch in eine genaue Frage übersetzt: „Wie kann ein Tagtraum vom besten Leben Prinzip sein?“, vgl. in: Eberhard Braun: Grundrisse einer besseren Welt. Beiträge zur politischen Philosophie der Hoffnung, Mössingen-Talheim 1997, S. 107.
[5] Mit dieser These öffnet sich der Weg zu hermeneutische Ontologie der Anderen. Siehe dazu: Manfred Riedel: Tradition und Utopie. Ernst Bloch Philosophie im Licht unserer geschichtlichen Denkerfahrung, Frankfurt a. M. 1994, S. 228-232.
[6] Den Unterschied zwischen „Nachttraum“ und „Tagtraum“ in Übersetzungen deutlich zu machen, ist oft schwierig, vgl. z. B. die Interpretation des Begriffes „Traum“ im russischen Sprachgebrauch Sergej Werschinin: „Ernst Bloch und die russische Kultur des 20. Jahrhunderts“ in: Vorschein. Die Ernte von 68. Anthropologie und Natur, Blätter der Ernst-Bloch-Assoziation, Nr. 18/19, Berlin 2000, S. 36.
[7] Siehe Alfred Schütz, Thomas Luckmann: Strukturen der Lebenswelt. Konstanz 2003.
[8] Siehe das klassische Werk von David Riesman „Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters“. Rowohlt, Ort 1958.
[9] Ernst Heiko: „Unser persönliches Paralleluniversum“, in: Psychologie heute, 07/2011. http://www.psychologie heute.de/archiv/detailansicht/news/unser_persoenliches_paralleluniversum